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buchbesprechung – die sprache der möwen

Gyrðir Elíasson (übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer), Die Sprache der Möwen, Elif Verlag

Im August machte ich den mir aus einer gemeinsamen Lesung bekannten Dichter und Übersetzer isländischer Lyrik, Wolfgang Schiffer, auf ein Konzert des mir lieb gewordenen Sängers Svavar Knútur aufmerksam. Seine freundliche Antwort enthielt ein großzügiges Angebot: Er wolle mir den im Oktober auf Deutsch erscheinenden Gedichtband „Die Sprache der Möwen“ von Gyrðir Elíasson zusenden.

Angesichts eines privat stürmischen Sommers fanden die Möwen zunächst keinen Weg zu meinem Ohr, sondern bauten sich ein Nest im Hinterkopf – und drängen nun auf Resonanz in meinen Tasten.

Veröffentlichungen des Elif Verlags finden ohnehin leicht ihren Widerhall bei mir. Der Hinweis, dass die Möwensprache Gedichte aus Bänden mit den Titeln Geheimer Stern und Während das Glas schläft vereint, weckt sofort Neugier. Schon der Einband – geometrische Figuren auf einem Aquarell – verspricht Klarheit und Weite.

Beim Aufschlagen freue ich mich: die Gedichte sind zweisprachig abgedruckt. Auch wenn isländische Möwen bei mir auf verständnislose Ohren stoßen, liegt in der Präsenz der Ursprungssprache Zärtlichkeit. 

Das Inhaltsverzeichnis überzeugt mit seiner liebevollen Systematik: dreistellige Seitenzahlen, sechs Kapitel, dazu die Herkunftsbände der Gedichte in Klammern. Hier wird deutlich – dieser Band ist mehr als eine bloße Zusammenstellung, eher eine neu komponierte Setlist mit eigenen Kapitelüberschriften. Wie der Einband schon andeutet: eine Balance aus Spiel und Ordnung.

Erneute Freude, als ich erkenne: Elíasson ist ein Freund der kurzen Form – schließlich trällern auch Möwen keine Arien.

Wir beginnen mit Kapitel eins: „Noch ein Frühling“ – ein Loop aus Neubeginn und Vergänglichkeit.

In „Ein paar Worte über natürliche Schönheit“ wird

„Schönheit in zertretenem
und abgestorbenem Gras“


so zärtlich gefeiert, dass sie alles erlaubt,


„was der Tag sonst noch
mit sich bringen mag“.

Diese Offenheit durchzieht den Band. Wenn es heißt:

„hat er nie

um etwas gebeten

(nur gewartet)

 doch jetzt bittet er

Dass alles weitergehen möge“

wird Hoffnung zum stillen Gebet um mehr Tage, von denen an späterer Stelle zugleich nichts mehr erwartet wird, selbst die Sonne „meinetwegen verschwinden“ kann. 

In der „Regenzeit“ tauchen ufernahe Grashalme zuerst unter,

„Sie schwanken

wie ein zerrissener Fächer

im Strom“. 

Die Natur ist nicht bloß Kulisse, sie spricht – wie in „Der Schwimmvogel“, wo dem rauschenden Bach pflanzlicher Rat erteilt wird:

„ein paar Vogelbeeren vor der Hauswand

wackeln mit ihren Blättern,

als wollten sie ihm sagen,

er solle langsamer machen“.

„Die Wanderung“ offenbart eine Spannung, in der zunächst zart anmutende Nähe banal und dann wiederum Trost im Angesicht drohenden Abgrunds wird: 

„Die Häuser schmiegen sich aneinander

zu einem Haufen am Strand, unter

steilen Bergen, die bereit zu sein

scheinen, sich ins Meer zu stürzen“

Natur wütet allzu menschlich, nordischen Gottheiten gleich. So ist der Fluss 

„Rostbraun

und wild, er erinnert

an einen Säufer,

der einen Wutanfall

bekommen hat, weil

es keinen Alkohol mehr gibt.“

Mal schweigen die Vögel wie Stein, was resignativ hingenommen wird. Dann wiederum begegnet der Dichter einem allverstehenden Meer. 

Im zweiten Kapitel zieht „Über den Hügeln der Wind“ etwas schärfer am oft schlaflosen Ton:

„und sie stürzen auf mich zu,

dort wo ich wehr-

los warte im dunklen Tal

ohne jegliches Grün“

Mal sitzt das lyrische Ich in einem Maulwurf, der nie aufschaute

„aus dem Keller,

den er selbst gegraben 

hatte“, 

mal verdingt es sich

„sowohl

als Vogel als auch als Herbstwind (…)

möchte immer wieder hierher 

zurück, um vielleicht ein Baum

zu werden, für ein oder zwei Jahre

        als Vertretung“.

Das dritte Kapitel, „Gästebuch zur Nacht“, öffnet dunklere Räume. „Die Flut“ spült eine fast physische Finsternis derart um sich greifend heran, dass es der Sonne nicht gelingt,

„in dieser zähflüssigen Dicke 

ein Feuer zu entfachen

und bald ist auch sie

in der Masse verschwunden“.

Elíasson fürchtet die Finsternis nicht, konstatiert: 

„Sogar die Albträume

sind den Schlaf wert“

und verweist auf das Ungesehene, das der Stern eines verstorbenen Dichters sein kann oder als Ungeheuer dunkler Fischgründe „Bisspuren am Luftschlauch“ hinterlassen und „dringende Fragen aufgeworfen“ hat. 

Im vierten Abschnitt wendet sich „Der Freund der Gräser“ dem Humor zu, indem der universelle Schmerz des Lebens projektiv auch einem Spatz Liebeskummer beschert, mit diebischer Freude „alle Rasenmäher funktionsunfähig“ gemacht werden oder Schopenhauer das Unglück durch sein Flötenspiel zähmen lässt.

Zwischen surrealer Leichtigkeit und bitterer Erkenntnis entlarvt Elíasson die Paradoxien menschlicher Beziehungen. Ein Phönix wird zu aus Schornsteinen in den blauen Himmel gespucktem Ruß oder eine Geliebte kommt im Traum eines anderen Mannes an. Direkte Dialoge halten Einzug in die Zeilen: 

„ „Menschen sterben nicht immer 

in der richtigen Reihenfolge“, sagte er

mit ernster Miene, als wir

den Weg zum Krankenhaus einschlugen.“

„Das Haus im Tal“ (5. Kapitel) zwischen Erinnern und Vergessen, erscheint eng:

„Das Balkongeländer bleibt 

mir auch immer im Kopf, mit

Gitterstäben, die an ein Gefängnis

erinnern“. 

Im abschließenden Kapitel „Trollteig“ dann wird es fantastisch: Zeitreisen, Sternentennis, schwarze Sonnenflügel, die hier und da Federn lassen.

Und der Weltuntergang wird zur beruhigend gleichmachenden Vorstellung:

„wenn wir gehen, gehen

alle anderen ebenfalls. Das

ist der Lemming in uns, 

der so groß ist wie

unsere Herzen“.

Gyrðir Elíasson hypnotisiert in kurzen Sequenzen. Seine Gedichte sind still, aber durchlässig für alles Lebendige. Sie atmen nordische Melancholie und die Disziplin fernöstlicher Formen und bilden einen ganz eigenen Ton sachlicher Romantik. Dank der feinfühligen Übersetzung Jón Thor Gíslasons und Wolfgang Schiffers klingt dieser auch im Deutschen durch.

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buchbesprechung – ich höre dem regen zu

Wolfgang Schiffer, Ich höre dem Regen zu, Elif Verlag

Wann bekommt man noch ‚echte‘ Post? Und dann gleich so eine Sendung! Gespannt öffne ich den Umschlag, weiß den neuen Band von Wolfgang Schiffer in ihm, Vorfreude, Dankbarkeit, und dann die Erkenntnis, dass mir die besondere Ehre zuteil wird, ihn vor Veröffentlichung lesen zu dürfen, in Händen zu halten. So gesellt sich auch noch Ehrfurcht hinzu.

Aus dem Umschlag schauen mich Augen aus Sonnen an, erinnern an den mystischen Symbolismus alter Tarot-Karten, etwas überraschend bei dem Titel. Es ist Herbst geworden in der Nacht vom achten auf den neunten dieses Monats, wie durch einen Schalter. Dem Regen zuhören – never gets old.

„Wohin mit dem Schmerz, den eine Welt bereitet, die sich in Auflösung zu befinden scheint?“

Die großen Fragen also, sie sind inzwischen wohl alltäglich geworden wie der Regen im Herbst, der Herbst, der dem Winter vorangeht, zuerst golden, dann kalt, Erntedank und Todesboten. Die Fragen, sie klopfen an unsere gemütlich erleuchteten Fenster, sollen draußen bleiben und Nebengeräusch sein – doch lassen sich nicht abschütteln, noch weniger beantworten. Die Erde hat noch immer keinen Buckel geworden, lieber Wolfgang – und du hast nicht aufgehört, einen

Versuch 

mitfühlender Vorstellung gemutmaßt Leids“ 

zu wagen.

„Warum schreiben, wenn dies Schreiben nicht Scham ist“

Dörfer aufzählen, deren Menschen geschlagen sind, vom Schicksal und in die Flucht und in die Fremde und in die Verzweiflung.

„Sie, die kommen, 

kennen ihre Namen,

doch sie sagen sie nicht,

sie weinen sie“

Kein Punkt, kein Ende. 

„Es schreit

unaufhörlich aus ihren stummen Mündern.“

Punkt. Totenstille.

„und dass mir kalt ist, kalt, dass es schmerzt wie Glut“

Empathie ist nicht immer kuschelig warm, manchmal ist sie wutentbrannt. 

„Ich will schreien, schreien wie die Verwundeten,

(…)

Nur schreien, keine Wörter mehr bilden“

Um dann zu erkennen: „Es sind die kleinen Dinge“, die Antwort geben können, Resonanz bilden, Trost spenden. 

„Warfen mich Antworten in Zweifel zuvor, häufig

in Trübsal sogar, so wiegt mich ihre Blättersprache

in Ruhe, außen und innen in Nähe zur Welt.“

„was soll’s, die Welt

da draußen, sie ist ja noch da …“

Politischen Texten folgt Nature Writing – und auch das ist politisch, in den Zeilen spricht sie zu uns, die geschundene Welt.

„Warum nur, ganz gleich wie still ich bin,

verstehe ich ihre Sprache nicht? Wer oder was

hat uns voneinander getrennt? Still sitze ich da und

fürchte, wir waren, wir sind es selbst …“

Danach Träume und Erinnerungen. Melancholische Gewebe. 

„Es war, als hätte das Dunkel der Nacht

Ein Fieber in den Tag geworfen,

(…)

Doch hatte der Träumende, teils ungebunden,

Nur geträumt, was allein ein Reihen von Worten vermag:

Kurzum: Er hatte sich in ein Gedicht verliebt!“

In “Dilemma I” hatte der Autor noch gefragt:

„Wäre es nicht ehrlicher, zu schweigen?“

Nein. Nein, weil es das Ende ebendieser möglichen Liebe wäre – denke ich, um dann erinnert zu werden an jenen „P.B.“, den Onkel eines sehr lieben Freundes, dem ich zu verdanken habe, dass ich unter einem Pflaumenbaum deine Bekanntschaft machen durfte, meine Gedichte mit denen meines Freundes und den deinen im Dreiklang in den Garten pflanzte, begleitet von „Holz und Jazz“. Wahr bleibt, was wahr ist. Was wichtig ist, kehrt immer wieder zurück, auch wenn sich Größenverhältnisse ändern und “am Grunde des Flusses die Steine wandern”. Hoffnung und Brecht.

„Schmerz ist eben Schmerz ist Schmerz ist Schmerz …“

Das stimmt, lieber Wolfgang. Und mit dir

„frage ich mich, was anderes

wir haben als Worte, um den Menschen

mit sich und der Welt zu versöhnen.“

Und bleibe die Antwort schuldig, so wie ich dir Dank schulde für die mir vorab anvertrauten Gedichte, die ich jenen in die Herzen schreiben möchte, die Trost suchen in diesen dunkler werdenden Tagen. 

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book review – lies

Doireann Ní Ghríofa, Lies, Dedalus Press

This one is in English as I try to write my book reviews in the language of the book I read. Since my Irish is still – and might remain – very rudimentary, English will have to do. 

When did I really decide to take up that walk uphill that is trying to learn the Irish language? If it comes down to it, I’d say it was that road trip to the west of Ireland in 2022. You might be able to distil it into a few special moments that trickled into my brain, clouded my better judgement and made me take decisions that were clearly under some influence. So after being infused by picturesque landscape, magical light breaking through clouds, uplifting „seisiún“ music and altogether loveliness of the people, I stumbled into the little gem that is Bridge Street Books in Wicklow (btw the winner of Best Bookshop in Ireland 2022, as I was informed by the bookmark I later received). 

I automatically went to the poetry section that was quite sizeable in proportion to the shop and discovered not only Irish poetry, but, to my delight: Poems in Irish with English translations by the author. Maybe, I thought, I had also been given a share of that famous ‚luck of the Irish‘. 

The cover drew me in, that exposed neck, the title ‚Lies’ overlapping the skin with yellow capital letters…

Fast forward to 2024, after useless hours on Duolingo (get your grammar straightened out, please and stop mixing the dialects, thank you), I finally found a great online Irish class by SKSK Königswinter, taught by amazing Chris Fischer, who can literally break the rules down to its essentials and provides materials as easy and clear as they get. I promise to end the advertisement here, but I do have to add that they can be highly recommended for celtic culture, language and music. 

So here I am, starting to understand a tiny little bit of that language where you are rather accompanied by feelings than having them inhabit (and control) you, where spiders were named after „fierce little stags“ and the word for cousin („col“)  indicates the degree of relationship by stating the number of people that are linked to/ or biologically separated by this relationship (in the case of the first cousin, that is four, „ceathrar“: person – parent – parent’s sibling – parent’s sibling’s child). Yes, it’s complicated and beautiful.

Now that at least the sound of the language the poems have originally been written in is a bit more familiar to me, I found the time to comment on my resonance to Doireann Ní Ghríofa’s poems.

The book starts with thanks to her parents (in Irish) and a quote by Lucie Brock-Broido encouraging us not to be afraid to tell the truth, even if it’s a lie. What is the true poem, if written by the same author – the original Irish version or the English one as well? Is the English translation by the author less of a lie than any other translation would be? And can any reader who is more fluent in one of those languages even come close to a decision? What the ‚true‘ Irish language is amongst the dialects, older and more modern words – we won’t even go there!

In „An Chéad Choinne, Sráid Azul/ First Date on Azul Street“, the tone is set, we get a first impression of the swiftness of moments, of truth:

„Imíonn gal is deatach le haer/

Our smoke and steam rise into the sky“.

The journey of butterflies all the way to Mexico leads to the Aztec people leads to souls of the dead leads to 

„wounds turning to red wings/ 

a gcneácha

tiontaithe ina sciatháin dhearga“.

Swiftness of images, of words, of associations:

„Nuair a osclaím mo bhéal, 

eitlíonn mo theanga uaim ar an ngaoth/

When I open 

my mouth, my tongue flies away.“

Is it the swiftness that bears the lie? The fact truth can never be truly grasped?

In „Glaoch/ Call“ the author implies the loss of true connection through digitisation, when she states that

„Now that our computers call each other,

I can’t

press your voice to my ear/

I réimse na ríomhairí,

ní thi liom

do ghuth a bhrú níos gaire do mo chluas“.

The field of computers does not make it into the English version. 

And when Doireann Ní Ghríofa refers to two rabbits in a Spanish proverb (or of Spanish language?) that forms the same title for both versions of the poem „Dos Conejos“ – you start to chase both rabbits but end up lost in the same rabbit hole. I guess I just can’t make more than two ends meet at once, if even that. 

The confusion is not lifted in the slightest bit when I turn the page to find the poem „Le Tatú a Bhaint/ Tattoo Removal“ to be even set differently, with the Irish one consisting of three stanzas while the English version is stretched to four. And a failed tattoo removal leads to me now failing to quote one single line in both languages that align and speak for the poem – I feel a bit lost in translation or did I just sink in like the letters that could not be removed? „Mé féin is tú féin“.

And then the ode like poem „Tinfoil/ Scragall Stáin“ makes me chuckle quite a bit and realise that playfulness might get me closer to the truth of what language tries to convey, not trying to nail it down word by word but rather playing it by ear:

„Oh look, Dad, the river’s smooth as tin foil!/ 

A thiarcais, tá an abhainn chomh slíomach le scragall stáin“.

The jigsaw of birth, gaps of suburbia, meditations on friendship and mashed potatoes, swapping nightclub sounds to the „buzzing hum/ dhúisíonn“ of a noctuary dishwasher, reflections on homework, genealogy under fridge magnets, sunken ships and loss – loss that lingers:

„déanta di siúd

a d’fhan, is

a d’imigh léi

i bhfaiteadh na súl/

a dress

for a girl who came

and left

too soon“

(…)

„Fásann an liathróid olla

i mo lámh: lúbtha, laich, lán./

I hold this soft unravelment as it grows,

and O, it grows, this un-wound wool. It grows. Dull. Full.“

The poet stays true to the idea that showing is more than telling – and existential experiences are reflected in every-day objects and activities. Different languages each call for their own image, sound and form. It seems like you can chase two rabbits at once after all.

And then she finishes the book with such a funny Irish curse you do not miss any blessings.

Doireann Ní Ghríofa, if your lies are always this true, please provide us with many more, le do thoil.

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buchbesprechung – die goldwaage

Nasima Sophia Razizadeh, Die Goldwaage, Wallstein

Wie ich an dieses Buch kam? Beim längst überfälligen Aufräumen meiner Schubladen entdeckte ich einen Thalia-Gutschein, den ich bereits 2021 bekommen hatte, als Abschiedsgeschenk meiner Stationsärztin, als ich aus Aachen wegging und nach Köln zog. „Ob er noch gültig ist“, dachte ich und meine sozialphobischen Anteile entschieden sich für die Probe im anonymen Online-Handel. Ein Gedichtband sollte es sein. Und bei der Durchsicht der Vorschläge fiel mir das Kintsugi-Cover auf, was gut zu meiner Stimmung passte. Vorbestellt. Gewartet. Ausgepackt – „Freisetzung“:

„Der Schlag des Metronoms in meinem Mund, 

dem meine Zunge ausweichen muss, 

ist das einzige Taktgefühl, das ich besitze,

mein Metronom, es tickt

einzig in der Schrift,

die Zunge muss sich ducken.“

Zwischen Wortgewandtheit und Sprachlosigkeit. Wirklich befreiend, wenn man sich spiegeln darf, sich selbst dadurch näher kommt, sich zugleich verbunden fühlt. Um dann wiederum durch ‚Attrappen’ daran erinnert zu werden, dass es das Ende der Liebe ist, wenn man sich ein Bild macht von jemand anderem:

„Drei Türen entfernt

sprichst du in eine andere Zeit

und verfehlst die Dunkelheit, nach der du

dein Bild von mir wirfst.

(…)

mein Bild von dir: ein flirrendes Versprechen,

dein Bild von mit: mein blindester Fleck – 

dunkle Bilder in dunklen Rahmen.“

Es sind oft sehr prägnante erste Zeilen, die ich dann im folgenden zu entblättern suche, die sich vor mir entfalten oder sich empor heben in Seifenblasen.

In der „Kompassrose“ im ‚Flussbett’ etwa heißt es:

„Die Nadel fragt

nicht nach dem Wohin.“

Die Nadel weist auf einen Traum, einen immerzu verfehlenden

„Faden

im Überschreiten der Grenze

(…)

das kleine Öhr

einer ungeduldigen Kompassnadel,

die bestimmt ins 

Blaue weist.“

Ach, die Romantik, immer wieder eine Reise wert. 

Da wird der ‚manic Monday‘ zum „Mondtag“, an dem die Dichterin ihr 

„Lungen- neben dein Rippenfell (…) zum Trocknen in die verdunkelte Sonne“ hängt und konstatiert:

„wir sitzen gemeinsam

Innen entkleidet,

in Tontöpfen ausharrend“

Es gibt einen Mut zur Verletzlichkeit, der die Behutsamkeit in den Zeilen zur Berührung werden lässt, zu ‚innigen Irritationen‘, wie das Kapitel ‚Delirium‘ untertitelt ist.

Ermutigt fühle ich mich durch die Dichterin im ‚Malstrom‘, wenn sie versichert: 

„aber deine Stirn sagt mir,

dass du mir folgen kannst

in diesem Sinnesstrom

in diesem Irrsinnsstrom

in meinen Malstrom

hinab,

hinab und

wieder hinauf“.

Der Band lebt von Gegensätzen, Sinnesqualitäten, Elementen, Rhythmen hypnotischer, aber klarer Sprache, den „Innenflächen“, ‚erdigen Flügeln‘.

„Ist das doch,

doch doch,

eine Grundfarbe,

ein Grundton,

ist das doch

ein Grund, ganz nah an den fernab Träumenden

heranzurücken“.

Dann ein in der ‚Neige’ eine ‚innige Akklimatisierung’

an die

„Suche und Sehnsucht

nach unserer Sprache,

nach dem verlorenen Gehör,

nach der kaum kenntlichen Schrift”.

Aber auch ‚externe Irritationen‘ werden in Zeilen gegossen 

„der Erstickungsgefahr zum Trotz“ – kehlige Laute oraler Fixierungen

„Biss um Biss,

kauend sich in sich

das trockene Brot 

des Lobs zu

versüßen.“

Dann ‚Wendepunkte und Begegnungen‘ „Schlag und Strich“ innerer Anteile, noch in „Zeichensprache“ partiell aussprechlich, denn

„Nachts wird 

das Fragezeichen zum

Synonym des Punktes“

und 

„In jeder Kammer

dieses Herzens

steht ein eigener Tisch.“

Dann sich annähernd an Gesprochenes:

„Kehllaute lege ich dir in die offene Hand. Ein

Anspruch, auf den du antworten sollst.“

Was zu eng wird, muss schließlich abgelegt werden. 

„Eine Schlangenhaut streicht durch die Wälder,

schreibt sich spukhaft ein ins Dickicht,

streift der Entledigung entgangene Lasten und Laster langsam ab“.

In der ‚Zeitumstellung‘ der ‚Textnacht’ ein lichtes Schattenspiel, dialogisch:

„Schatten, die ich

in mich verlängere

und: durch mich in dich.“

Dann als ‚Wort und Antwort‘ der ‚Goldwaage‘.

„Und die Stimme,

sie knospt,

knospt zaghaft,

knospt mutig.

Ein Wort wird wachsen, 

wird den Zügel zerschneiden,

wird den Reiter stürzen,

wird die Wunde heilen“.

So schwebe, fliege, falle und wachse ich mit der Autorin.

Liebe Nasima Sophia Razizadeh,

„fühle all das, was 

den Facetten entgeht

(…) 

und verbleibe so, mohnnah,

still und störrisch.“

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buchbesprechung – meine flüsse

Faruk Šehić, Meine Flüsse, parasitenpresse

Nachdem mir der Besuch im letzten Jahr nicht vergönnt war, freute ich mich schon seit Wochen auf die sechste Auflage des Europäischen Literaturfestivals Köln-Kalk (ELK). Ein herrliches Fest sprühender Kreativität und Vielfalt ohne prätentiöses Beiwerk. Besonders mag ich dort den ersten Abend, der ein Potpourri aus allen Autor:innen auf die Bühne bringt, eine unkommentierte Vorschau auf die nächsten Tage, die viel Raum lässt für Assoziationen und das Keimen gespannter Erwartung. 

So auch heute. Ich begann mich wohlzufühlen und die lange Arbeitswoche ausklingen zu lassen und da reißt mich Faruk Šehić aus der mir im Arbeitsleben so bekannten gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Manche Lyrik verzaubert, manche rührt uns an, weil sie uns spiegelt oder erinnert. Und wiederum andere ermöglicht uns einen Blick in Erfahrung, die die meisten verstummen lässt. 

Faruk Šehić liest ein Gedicht aus dem in diesem Sommer in deutscher Übersetzung in der parasitenpresse erschienenen Gedichtband „Meine Flüsse“. In Bosnisch ist der Band bereits vor zehn Jahren erschienen. Er liest in seiner Sprache. Stan Lafleur liest in deutsch. Übersetzt hatte Rebekka Zeinzinger. 

Mit dem Beginn

„Wenn ich genügend Geld hätte, würde ich mich nach Berlin schicken

Mit DHL oder FedEx, ich bin etwa 85 Kilo schwer“

führt uns der Autor gleich auf das dünne Glatteis eines Humors, unter dem sich das Gewässer dunkler Färbung und unsichtbaren Grundes verbirgt wie eine bittere Medizin im Zucker. 

Es gibt eine Art Witz, den nur Menschen haben, die „ein rätselhaftes Wasserzeichen“ in ihren Augen tragen, die „fest entschlossen“ sind zu fliehen, sei es „In einem Kartonwürfel der Post mit „Express“-Aufkleber“.

Mich lässt es nicht los, gleich nach der Lesung kaufe ich den Band und bitte den Autor um Unterschrift – als bräuchte es diese – als ragte die Handschrift nicht ohnehin schon wie ein Eisberg aus den Seiten hervor. Aber es ist mir wichtig. 

Ein Band in vier Flüssen, der Una, der Loire, der Spree, der Drina und schließlich in Jenseitigkeiten im letzten Abschnitt.

Und gleich im ersten Gedicht, dessen Titel ein Zeichen (*) bildet, das man normalerweise mit Geburt assoziiert, stellt der Dichter klar, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt in der Welt, die im Juni 1992 hereinbrach:

„auf der anderen seite der brücke

(dort wo der feind ist,

dort ist auch unser zuhause)

(…)

der krieg hat erst begonnen

und jugoslawien ist gestorben.“

Leider spreche ich seine Muttersprache nicht und kann die Wirkung der Melodie in Verbindung mit der Bedeutung nur erahnen, aber die Wortgewalt bricht sich auch in der Übersetzung derart bahn, dass ich mich nicht entziehen kann.

In „Kriegsspiel“ heißt es:

„wenn du kurz nicht aufpasst

und vergisst

dass du schnell rennen musst

ermahnt dich das zischen der kugel

wenn es dich nicht ermahnt

heißt das, du bist tot.“

Und dann, nach Stromschnellen, ein Moment des Innehaltens:

„das ist mein fluss

darin habe ich mich erkannt

(…)

seine farbe reimt sich mit der atmosphäre“

An der Una finden sich weniger Worte, so scheint es. Zumindest im direkten Vergleich zur folgenden Loire, die erzählender daherkommt:

„Der Atlantik flutete die französische Küste. Klingt wie eine

Tautologie, die keine ist. Fluten heißt glückliche

Wellenwiederholung und klimatische Milde. Ich erkannte

das ausgewaschene Indigo von Miesmuscheln, im Sand

steckend wie Helme von kleinen Außerirdischen.“

Der Krieg ist hier Geschichte, fremd, kommt, wenn „der Atlantikwind“ „die Fantasie in alle Richtungen“ entfacht und geht wieder, wie die Wellen, wo „Fluss und Ozean eins“ werden. Der Wind zieht den Vorhang wieder auf 

„trüge meinen Namen heran, Faroukh, wie auf Französisch 

Und Arabisch. Ich würde endlich wo dazugehören.“

Auch wenn ich es nicht will, so kommt mir doch die klinische Brille wieder auf die Nase gekrochen – aber zum Glück nur die von Luise Reddemann, die von Überlebenskunst spricht und der heilsamen Kraft der Imagination. Denn so albtraumhaft so manches erscheint, so sehr wiegt einen bildreiche Fantastik immer wieder in hypnotische Sphären erleichternder Dissoziation. 

„In einer feuchten Schublade wächst Gras

(…)

Streichle das Gras wie das Haar deines Erstgeborenen

In der Lade ist alles gut das Gras erzeugt Stille und Sauerstoff“

„Einen Moment lang dachte ich, ich könnte über Wasser gehen

Von oben hielten mich Flusssirenen

(…)

Zeit nach Hause zu gehen, wo der Körper geschützt ist“

Berlin, nicht ganz so tröstlich, die Spree 

„Ein dunkler und undurchsichtiger Fluss“, den ich zum Cliffhanger nutze, ich will ja nicht zu viel verraten.

An der Drina begegne ich mit Faruk Šehić den „verstoßenen Dingen“.

„Die Schwerkraft verlangsamt Schritte und Sprache

(…)

Ja, Schuldgefühl ist Luft, die wir ausatmen

Kein Gedicht über Srebrenica wird je an sein Ende kommen“

„An eurer Stelle trinke ich Bitter und Gift

Ich töte an eurer Stelle, liebe an eurer Stelle, klopfenden

Herzens“

Und schon wieder wandert ein Teil von mir ab. Vielleicht hat Kurt Vonnegut, ebenfalls Veteran, recht mit seiner „canary in the coal mine theory of the arts“, denke ich. Die, die beim Ein- und Ausatmen aufnehmen, merken am ehesten, wenn die Luft verpestet ist.

Jenseits des Flusses „die allmächtige und fürchterliche Natur“.

„Kalzium zu Kalzium

Fleisch zu Gras, Pilzen, wilden Tieren

Jeder Tag hört damit auf

Und beginnt mit Perfektion“

Lieber Faruk Šehić, ich kenne dich nicht und doch haben mich deine Texte ereilt, die 

„Unehrlichkeit im Schreiben, die du sorgsam umgangen bist aus

Mangel an Worten“.

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buchbesprechung – firnis & revolte

Christoph Danne, Firnis & Revolte, Corvinus Presse

Trotz einiger zu erledigender Pflichten, die länger dauerten als geplant, schaffte ich es am letzten Sonntag endlich (!) noch einmal zu einer Lesung in Köln. Im Rahmen des NRW-Tages sollte „Neue Literatur aus Köln“ vorgestellt werden, darunter auch ein mir schon länger bekannter Autor, Christoph Danne. Der Weg zur Bühne war … anstrengend … durch allerlei Menschen, deren Kinder, deren Hunde, vorbei an Ordnern, die mir nicht sagen konnten, wo die Nordbühne sei. Der Frust legte sich erst, als ich auf einem der Plastikstühle vor der Bühne einen Platz fand und die altbekannte Ruhe einkehrte, die mich einhüllt, wenn jemand vorliest. 

Gerade war Natalie Harapat dabei, aus ihrem Band „Übertrieb“ zu lesen. Ihre unbedingte Direktheit gepaart mit scharfem Witz, schnellen Bildern und gleichzeitiger Ernsthaftigkeit in der Beschreibung beeindruckte mich – und dann noch diese Lässigkeit auf der Bühne. Das Buch schlich sich sogleich auf meine Wunschliste.

Und schon leitet André Patten, der Moderator von „Land in Sicht“ über zu Christoph Danne und den Gedichten aus seinem neuen Band „Firnis und Revolte“. Gedichte gehen einfach immer! Sonor ließ ich mich wegträumen an diesem Sommertag, an dem mir schon zu viele Leute fast auf die Füße getreten wären und kam an, wo ich noch nie war: in Katalonien und ließ mir

„erzählen was einst gewesen ist“.

Märchenhaft und erdig zugleich, denn anders als Hilde Domin, deren Fuß sogar in der Luft Halt fand traut Christoph dem Grundlosen etwas weniger, wenn er über im Dunkeln herangezogene Fischerboote schreibt:

„setzen einen fuß aufs deck

zu sehen

ob es uns trägt“

Wunder. Alltag. Handwerk. Schreiben. Christoph Danne holt seine Gedichte planvoll und auf den richtigen Moment hoffend zugleich ein wie der Angler, dem er zusieht. Nur einer von beiden hatte Glück – worauf André Patten später hinweisen wird. 

Man folgt Herrn Danne gerne „Ins Offene“

„wo die berge taumeln“ und 

„der unberührbare“ einen Hauch Ewigkeit versprüht, 

versichert uns der Autor:

„auf dem weg achten wir

aufeinander am erodierten fels

den halt nicht

zu verlieren“.

Ein leichtes Schmunzeln holt die Lesenden dann wieder ins Hier und Jetzt der Banalitäten und Alltäglichkeiten, denn selbst im scheinbaren Paradies

„brutzeln familien aus dinslaken und dortmund

aalen sich jahresurlauber auf bunten tüchern

vierzehn tage hochsommer

in öl und salz“.

Es scheint fast, der Dichter

„arbeitet in der anchovis industrie

fängt sardellen legt sie ein“

und schafft aus ihnen lyrisch

„sauber ausgewogene formationen“.

Nah sind die Texte, nah an der Welt, in der sie entstanden sind, sind wie ein fester Händedruck, warm und ehrlich, und zugleich flüchtig wie ein „wimpernschlag“ – es ist in diesen Zeilen möglich, dass 

„ (…) die worte in

ihre gegenstände zurückfinden“.

Man will dir beherzt beipflichten, lieber Christoph, wenn du sagst:

„alles unheil rührt daher

dass man nicht einfach

aufs meer schauen kann“.

Sein Buch habe ich übrigens nach der Lesung von ihm selbst erstehen können, ein sehr rares mitgebrachtes Exemplar, sehr rar. Es gab nur eins. Und das wird mir dann auch noch überlassen von einem anderen Käufer – ein Glücksfang! Ich könnte noch schreiben darüber, wie kunstvoll Gestaltung, Druck und Bindung sind, aber ich möchte das Schlusswort lieber dem Autor selbst überlassen – in der wie ich finde – treffenden Aussage über die Texte:

„zweifel und glück

firnis und revolte

all das ist für euch“.

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