Lisa Krusche, Unsere anarchistischen Herzen, S.Fischer
Das Buch begegnete mir in meinem ersten nach dem Lockdown endlich wieder möglichen Streifzug durch eine meiner Stammbuchhandlungen. Eigentlich hatte ich einen Lyrikband ausgesucht und war schon auf dem Weg zur Kasse, da platzte mir die Kaugummiblase auf dem Cover ins Gesicht. Und dann dieser Titel. Sowas von in your face, dass ich nicht daran vorbeikam.
Die auf dem Klappentext beschriebenen Zumutungen und schillernden Aufregungen des Erwachsenwerdens kamen mir nach der Corona-Coconzeit selbst wieder seltsam nah vor.
Der erste Satz „Papa rennt nackt durch Charlottenburg.“ setzt das Thema. Parentifizierung also. Naja, alte Kiste, könnte man meinen. Lisa Krusche gelingt es, durch ihre schnelle Erzählweise mit wechselnden Perspektiven einen inneren Film zu erzeugen wie in „Victoria“, dem Film von Sebastian Schipper, 140 Minuten in einem Cut – aber in introvertiert.
Assoziativ gelockerte poetische Innenschau wechselt mit lebendigen Dialogen, analog oder digital – und alles in einem Cut.
Gwen und Charles kommen daher wie zwei Seiten derselben rostigen 1-Cent-Münze, die man aus der Waschmaschine fischt und die sich nach dem Fallen immer schneller dreht, bis sie auf einer Seite zum Liegen kommt. Es dauert lange, bis sie sich begegnen – wie zwei Gestirne, die sich erst sehr langsam aufeinander zubewegen, um sich dann unaufhaltsam und immer schneller anzunähern.
Gwen
Allermeistens bin ich blau. Ein deep space Blau. Aber das hängt ja mit der Welt zusammen, weil man ihr nicht entkommen kann. Weil alles in einen hineinläuft, es gibt keine Filter, keine Schleusen, nur diesen Strom der Dinge, der sich in Farben kristallisiert.
ich bin in mich selbst invertiert, ein vexierbild aber ohne kippmoment ein 3D-film ohne brille
es wird mir immer schwindelig, wenn ich mich selbst zu lange anschaue
Ich hebe mein T-Shirt, taste die Schwellungen an meinen Rippen ab, krümme mich vor Schmerz, und von den Blutergüssen breitet sich das Lila im ganzen Raum aus und legt sich auf mich wie ein Colour-Fog-Filter, und ich gehe in die Hocke und heule eine Minipfütze Tränen auf den Toilettenboden, Mimosensee, indem ich mein verstörtes Gesicht erblicke. Es ist nicht so, dass ich mich für unzerstörbar halte, allerhöchstens halte ich mich für egal.
Charles
Ich denke an Sartre. Dass er völlig unspezifisch war. Die Hölle, das sind nicht einfach die anderen. Die Hölle, das sind die Eltern.
„Ich bin konservativ”, sagt er, „daran ist ja nichts Schlechtes. Konservativ das kommt von Latein conservare. Das bedeutet bewahren. Ich will einfach nur Werte bewahren“. Einstimmiges Nicken in der Runde. Gwen schaut auf ihren Teller. „Die faschistischen Werte deiner Großeltern oder welche?“ Ich beuge mich über meinen Teller und schaue den Schönheitschirurg an. Alle Köpfe drehen sich zu mir.
In Punkrock-Poesie entwickelt Lisa Krusche das Bild einer radikalen Sensitivität, in der die Figuren insbesondere durch ihre Verwundbarkeit und Verwundungen zum Strahlen kommen. So hat die Geschichte etwas Ur-romantisches mit einer leisen Schrille, Instagram-Filter inklusive – ohne jedoch dem Kitsch zu erliegen, wie es diese tiefsinnigen Sprüche mit Bildern tun.
„Trotzdem leben“, sage ich.
„Live laugh love”, sagt Gwen.
“Und Widerstand”, sage ich.
“Live laugh love und Widerstand”, sagt Gwen.
(…)
„Eher so: ein Bengalo in jeder Hand und ein Haifisch über der Schulter“
& alles ist so golden