Christoph Wenzel, landläufiges lexikon, Edition Korrespondenzen
Am Ende einer ergebnislosen Suche nach einem signierten Exemplar schrieb ich den Autor direkt an mit meiner Bitte. Eine direkte positive Antwort. Eine pragmatisch-freundliche Abwicklung. Eine kurze Reise in meinen Briefkasten. Eine merklich weitere im Lesen.
Christoph Wenzel zeigt uns die Einöde zwischen den bekannten Haltestellen. Die Zwischenräume, die wie die Fransen eines Teppichs die besondere Zier ausmachen oder auch nur den Nutzen unterstreichen.
Wer kann diese Landschaft lexikalisieren, lesbar machen?
„die karte blättert auf, im wind, im durchzug,
in gedächtnisfugen“ sind die Zeilen der Widmung.
Karte, Wind, durchziehendes Gedächtnis, denke ich. Was durchzieht mich noch immer die Provinz meiner Herkunft, was ich gerne in den Wind stelle, abschütteln will und doch aus den Fugen meiner Identität nicht herauszukriegen ist – mich als Leerstelle erbaut hat in die Kontexte meines weiteren Lebensweges – deutsch, Arbeiterkind, Mädchen, schielend, studiert, verheiratet, geschieden, promoviert, mit Zungenschlag, tätowiert, katholisch.
„blickbeziehung, splittersiedlung“ beschreibt das Scherbenmosaik eines Davon- aber vielleicht nicht Angekommenen ganz gut. Beziehungen geben Heimat.
„…unter
den dörfern dörfer, auf den bunkerruinen weidet
das schaulustige vieh, sieh: die sondengänger sonntags
auf dem acker spüren nach notgeld, munition, die hälfte
einer hunde-marke. ihre sollbruchstellen. die suchtiefe
ist hoch, das gedächtnis schwach. im dorfladen: schrauben“
Was hält uns zusammen angesichts all der Toten, all der Schwere der Schuld, des Überlebens? Schrauben im Dorfladen, einödige Beschäftigung, Disziplinierung zu tief grabender oder zu abschweifiger Überlegungen.
Trost gibt die gleichsam karge Natur, die sich bahnt nach Abklingen der Flugschneisen alter Weltordnungen.
„vogel bülow, das alte geschwader, lange ausgephast, wie
man sagt, frottiert sich nach dem ende der geschichte
wieder durch geschlossene wolkenfelder“
„…dann brauchts auch die brauerei am ort,
sie ist größer als das dorf, größer sogar als der durst, prost! du fährst!
…wir hören das
lokale radio hundertkommaX, wir sprechen die sprache, verstehen:
nullkommanix.“
Ohne Karte folge ich Christoph, bahnt die Erinnerung mir eine eigene beziehungsgerichtete Blickeinengung, ein Kaleidoskop meiner provinziellen Welt voller Paradoxie.
Bitburg. Weltordnungen, alt erdacht, wiederauferstanden.
Atlantis in Büchel und Ramstein, ausgebaut dastehend – von sich verfestigenden Verhältnissen kündend.
Damals für mich jenseits meiner Politisierung Freiheit, Neues, Ausbrechen, Möglichkeit und Sehnsuchtsort bunter Vielfalt trotz aller Tarnanzüge.
Schließlich stimmt: „…idylle mit bushaltestelle (eine kapelle: warten und betend, dass der bus kommt)“.
‚Amiflittchen‘ wie ich standen wie Vogelscheuchen im Feld (‚Ich weiß nicht, wie weit ich noch lesen soll‘, denke ich).
„wir werden begleitet vom tinnitus im wind“
„der vollmond als role model
für mostäpfel mit frostschäden“
Feldwege neben alltäglichen (Kriegs)traumata.
„…ein gewitter, für das du keine sprache hast,
migräne, sturm, furchen auf der stirn, die parallelstraßen
zur dorfachse“
Ich erinnere mich an meine Arbeit in der Landpsychiatrie und an die Dankbarkeit doch so viel freier schon geworden zu sein. Anknüpfend hallt aus der Widmung wider:
„die karte blättert auf, im wind, im durchzug,
in gedächtnisfugen“.
Lieber Christoph,
„du stehst im hausflur in der feldflur, inmitten
eines wörterbuchs, wir, ihr, sie, die lücken,
…jede der biographischen straßen,
was dort gesprochen wird, passt auf keinen spickzettel.
jede familie ihre eigene sprache, ihre steichholzschachtel,
drei idiome passen hier in einen satz, mindestens, dazu
das platt, in einem wort, einem laut, in einem schrei
das ganze schmale lexikon“
So bleibt am Ende die Dankbarkeit. Für das Urbarmachen der Meinen, meiner Familie, meiner Begleiter:innen, derer, die mich aufgreifen konnten.
Dank dir, Christoph, für
„das archivgut deiner straßenzeilen“.
Auch wenn es stimmt:
„das dorf ist
ziemlich alt geworden
es ist im gründe nur noch ehrenamtlich hier“
–
„niemand sonst
versteht das. selten einmal, aber dann richtig:
kraftausdrücke, kraftfutter, momente größter zärtlichkeit“.
–
„du legst dich hin und jetzt ist schichtbeginn“
–
Danke.