Allgemein, Book Review, Poetry, Writing

buchbesprechung – meine flüsse

Faruk Šehić, Meine Flüsse, parasitenpresse

Nachdem mir der Besuch im letzten Jahr nicht vergönnt war, freute ich mich schon seit Wochen auf die sechste Auflage des Europäischen Literaturfestivals Köln-Kalk (ELK). Ein herrliches Fest sprühender Kreativität und Vielfalt ohne prätentiöses Beiwerk. Besonders mag ich dort den ersten Abend, der ein Potpourri aus allen Autor:innen auf die Bühne bringt, eine unkommentierte Vorschau auf die nächsten Tage, die viel Raum lässt für Assoziationen und das Keimen gespannter Erwartung. 

So auch heute. Ich begann mich wohlzufühlen und die lange Arbeitswoche ausklingen zu lassen und da reißt mich Faruk Šehić aus der mir im Arbeitsleben so bekannten gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Manche Lyrik verzaubert, manche rührt uns an, weil sie uns spiegelt oder erinnert. Und wiederum andere ermöglicht uns einen Blick in Erfahrung, die die meisten verstummen lässt. 

Faruk Šehić liest ein Gedicht aus dem in diesem Sommer in deutscher Übersetzung in der parasitenpresse erschienenen Gedichtband „Meine Flüsse“. In Bosnisch ist der Band bereits vor zehn Jahren erschienen. Er liest in seiner Sprache. Stan Lafleur liest in deutsch. Übersetzt hatte Rebekka Zeinzinger. 

Mit dem Beginn

„Wenn ich genügend Geld hätte, würde ich mich nach Berlin schicken

Mit DHL oder FedEx, ich bin etwa 85 Kilo schwer“

führt uns der Autor gleich auf das dünne Glatteis eines Humors, unter dem sich das Gewässer dunkler Färbung und unsichtbaren Grundes verbirgt wie eine bittere Medizin im Zucker. 

Es gibt eine Art Witz, den nur Menschen haben, die „ein rätselhaftes Wasserzeichen“ in ihren Augen tragen, die „fest entschlossen“ sind zu fliehen, sei es „In einem Kartonwürfel der Post mit „Express“-Aufkleber“.

Mich lässt es nicht los, gleich nach der Lesung kaufe ich den Band und bitte den Autor um Unterschrift – als bräuchte es diese – als ragte die Handschrift nicht ohnehin schon wie ein Eisberg aus den Seiten hervor. Aber es ist mir wichtig. 

Ein Band in vier Flüssen, der Una, der Loire, der Spree, der Drina und schließlich in Jenseitigkeiten im letzten Abschnitt.

Und gleich im ersten Gedicht, dessen Titel ein Zeichen (*) bildet, das man normalerweise mit Geburt assoziiert, stellt der Dichter klar, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt in der Welt, die im Juni 1992 hereinbrach:

„auf der anderen seite der brücke

(dort wo der feind ist,

dort ist auch unser zuhause)

(…)

der krieg hat erst begonnen

und jugoslawien ist gestorben.“

Leider spreche ich seine Muttersprache nicht und kann die Wirkung der Melodie in Verbindung mit der Bedeutung nur erahnen, aber die Wortgewalt bricht sich auch in der Übersetzung derart bahn, dass ich mich nicht entziehen kann.

In „Kriegsspiel“ heißt es:

„wenn du kurz nicht aufpasst

und vergisst

dass du schnell rennen musst

ermahnt dich das zischen der kugel

wenn es dich nicht ermahnt

heißt das, du bist tot.“

Und dann, nach Stromschnellen, ein Moment des Innehaltens:

„das ist mein fluss

darin habe ich mich erkannt

(…)

seine farbe reimt sich mit der atmosphäre“

An der Una finden sich weniger Worte, so scheint es. Zumindest im direkten Vergleich zur folgenden Loire, die erzählender daherkommt:

„Der Atlantik flutete die französische Küste. Klingt wie eine

Tautologie, die keine ist. Fluten heißt glückliche

Wellenwiederholung und klimatische Milde. Ich erkannte

das ausgewaschene Indigo von Miesmuscheln, im Sand

steckend wie Helme von kleinen Außerirdischen.“

Der Krieg ist hier Geschichte, fremd, kommt, wenn „der Atlantikwind“ „die Fantasie in alle Richtungen“ entfacht und geht wieder, wie die Wellen, wo „Fluss und Ozean eins“ werden. Der Wind zieht den Vorhang wieder auf 

„trüge meinen Namen heran, Faroukh, wie auf Französisch 

Und Arabisch. Ich würde endlich wo dazugehören.“

Auch wenn ich es nicht will, so kommt mir doch die klinische Brille wieder auf die Nase gekrochen – aber zum Glück nur die von Luise Reddemann, die von Überlebenskunst spricht und der heilsamen Kraft der Imagination. Denn so albtraumhaft so manches erscheint, so sehr wiegt einen bildreiche Fantastik immer wieder in hypnotische Sphären erleichternder Dissoziation. 

„In einer feuchten Schublade wächst Gras

(…)

Streichle das Gras wie das Haar deines Erstgeborenen

In der Lade ist alles gut das Gras erzeugt Stille und Sauerstoff“

„Einen Moment lang dachte ich, ich könnte über Wasser gehen

Von oben hielten mich Flusssirenen

(…)

Zeit nach Hause zu gehen, wo der Körper geschützt ist“

Berlin, nicht ganz so tröstlich, die Spree 

„Ein dunkler und undurchsichtiger Fluss“, den ich zum Cliffhanger nutze, ich will ja nicht zu viel verraten.

An der Drina begegne ich mit Faruk Šehić den „verstoßenen Dingen“.

„Die Schwerkraft verlangsamt Schritte und Sprache

(…)

Ja, Schuldgefühl ist Luft, die wir ausatmen

Kein Gedicht über Srebrenica wird je an sein Ende kommen“

„An eurer Stelle trinke ich Bitter und Gift

Ich töte an eurer Stelle, liebe an eurer Stelle, klopfenden

Herzens“

Und schon wieder wandert ein Teil von mir ab. Vielleicht hat Kurt Vonnegut, ebenfalls Veteran, recht mit seiner „canary in the coal mine theory of the arts“, denke ich. Die, die beim Ein- und Ausatmen aufnehmen, merken am ehesten, wenn die Luft verpestet ist.

Jenseits des Flusses „die allmächtige und fürchterliche Natur“.

„Kalzium zu Kalzium

Fleisch zu Gras, Pilzen, wilden Tieren

Jeder Tag hört damit auf

Und beginnt mit Perfektion“

Lieber Faruk Šehić, ich kenne dich nicht und doch haben mich deine Texte ereilt, die 

„Unehrlichkeit im Schreiben, die du sorgsam umgangen bist aus

Mangel an Worten“.

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Allgemein

buchbesprechung – herzschlagdrama

Safiye Can, HerzSchlagDrama, Büchergilde Gutenberg

Eine etwas andere Rezension als sonst. Ich hatte das große Glück der frühen Bestellung und konnte sogar ein signiertes Exemplar über die Büchergilde bekommen. Es handelt sich um eine exklusive Zusammenstellung. Das Interview im Büchergilde Magazin von Juliane Noßack bildete die Basis der schnipselpoetischen Betrachtung.

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Poetry

pick up the wind

mother silence sought me out

to descend into her hands

to have her song played in the halls of my ribcage

to echo her touch within my armour my throat became hoarse from

all these unspoken voices

that knocked my skull in

when there was no one

to answer my prayer

when no god would

call me their daughter and

no friend would walk with me however

all these imploding flames

gave my heart away to

longing

for a vessel for

what might become

magic – the creation of a difference

veröffentlicht in INCANTRATICS by @theforestarts

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Allgemein, Feminism, Poetry, Writing

defy me!

the first star
could write my head in deep darkness that fills my cocoon

all my dreams
will be back around for work based purposes
– a single night –
forgotten
has shaped these days
with its back against the wall

as it walked by my side

but i did run away again
delight
a little too tight

created this world
from a lost otherworld

boundless joy has come once again,
with its arms above!

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Book Review, Music

book review – instrumental

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James Rhodes (2015), Instrumental, Canongate Books Ltd.

I met this particular book on a stride through the area around my rented practice room in Cologne. I had a break, a patient had not showed due to this mean flu that’s been going around. I hit one of my favorite book stores. As I walked in, I did what I always do – I looked around, almost forgetting why I had come here and guilt-tripping myself about spending more money on books when there were still too many waiting at home for me to read. ‘Der Klang der Wut’ – The sound of anger? The title sounding like some hippie therapeutic self-help manual, the cover looking like someone had been really eager to destroy shit – weird enough for me. I picked it up, and after a few seconds I knew it was exactly what I wanted to read. Now. Since I wanted to get the author’s original words I downloaded it on my kindle (ordering it would have taken a full day – please be understanding).

Instrumental – the title alone already deserves some form of an award. I could write about how James Rhodes managed to put unspeakable things into words that have healing potential to so many suffering from the ‘aftermath of violence’ as Judith Herman called whatever pile of symptoms survivors face. What truly wowed me is the ruthless honesty James Rhodes confronts us with. By us I mean the bystanders, the readers, the teachers, the psychologists and doctors, the friends, the family members, the partners. I have never read a book that used exactly the words I hear on a daily basis, that was able to capture the guilt, the shame, the horror (“clearly someone could only do those things to me if I were already inherently bad at a cellular level”) and the unbreakable will to ‘deal with this pile of shit’ as one of my patients put it. This book is loud. It is because it has to be. But just like the cited ‘Goldberg Variations’ this book alternates in volume and intensity and knows when it is best to refrain from using words but let silence speak for itself, creating images in our heads that might actually make us understand. And above all – music.

“It provides company when there is none, understanding where there is confusion, comfort where there is distress, and sheer, unpolluted energy where there is a hollow shell of brokenness and fatigue.”

Music is what structures the whole book. The chapters are all connected to a piece of classical music, the author giving an idea of why this particular piece was chosen and its context within the composer’s life. The book repeatedly invites us into this parallel universe that classical music seems like. And yet James Rhodes’ approach is that of a grassroots level folk musician. Neither stuck up nor brownnosed. It’s like a manifesto for the inherent value of creative work, “to find what you love and let it kill you” (as he quotes Bukowski). At the same time he harshly criticizes the industry behind (classical) music offering something the “few geriatric, inbred morons” neither show nor appreciate: truthful inspiration. An urge to be creative that needs expressing. He offers:

“My solution? Fuck the lot of them. Play what you want, where you want, how you want and to whom you want. Do it naked, do it wearing jeans, doing it while cross-dressing.”

Clear, authentic language and determination meets modest self-irony:

“OK, I know it sounds a little like some utopian vision of mine that occurred while taking a really long dump, but trust me, I will make this happen.”

He even gives helpful relationship advice (a circumstance he himself describes as “hysterical”):

“Stop being a dick. The biggest killer in any relationship is point-scoring. The great Persian poet, Rumi, wrote, ‘somewhere out there, beyond ideas of right and wrong, there is a garden. I’ll meet you there.’ ”

This is definitely the perspective of this book: subjective, neither claiming to be right, nor neutral, nor better.

I have already recommended this book to a number of friends, patients and colleagues, even before I finished it. I hope it will find many readers in Germany as its translation has been published recently. Things sometimes seem to have an ironic connection. I found the book when one of my patients (a survivor of sexual trauma) was down with the flu. I finished it today, sick in bed, drinking tea, listening to Ludovico Einaudi.

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